Umblättern im Kopf – ein Besuch beim Nordbayerischen Kurier
Die Idee, über den Nordbayerischen Kurier zu schreiben, hatte ich blöderweise erst auf der Rückfahrt. Und so was ist als Reporter ja immer schlecht. Man hätte noch ein paar Fragen stellen können, wenn man das vorher schon gewusst hätte. Ehrlich gesagt, es wäre auch sehr naheliegend gewesen.
Ich hatte schon vor meiner Fahrt nach Bayreuth gelesen, dass der Kurier seit Februar etwas Neues ausprobiert. Ein neues Arbeitsprinzip. Online to Print. Bei der WELT machen sie das seit Jahren, aber der Nordbayerische Kurier ist eines der ersten Regionalblätter, die ihre Redaktion so auf den Kopf stellen.
„Online to Print“, das ist noch ein Schritt weiter als „Online First“. Es geht nicht mehr nur darum, zuerst ans Netz zu denken und dann an die Zeitung. Es ist der Versuch, sich vom zeitungszentrierten Denken ganz zu lösen, denn das steckt so tief in den Köpfen, dass es da inzwischen sehr viel blockiert.
Online to Print. Das bedeutet: Ab sofort bestimmt eine neue Frage den Tag. Sie lautet nicht mehr: Was steht morgen wo und in welcher Form in der Zeitung? Sondern: Was wird wann und in welcher Form wo veröffentlicht? Der Blick ist nicht mehr ständig auf den nächsten Tag gerichtet, sondern auf den aktuellen. Und die Zeitung kommt zuletzt. Wenn alles andere fertig ist, baut man aus den besten Inhalten eine Ausgabe.
Eigentlich war ich nur nach Bayreuth gefahren, weil ich da aus meinem Buch vorlesen wollte. Joachim Braun, der Chefredakteur des Kuriers, hatte Christian Jakubetz und mich als Gastleser zum Hate-Slam der Zeitung eingeladen.
Hate-Slam. Das heißt: Redakteure bringen hasserfüllte Leserbriefe auf die Bühne. Der Kurier hat sich auch das nicht ausgedacht, aber es ist wahrscheinlich kein Zufall, dass er auch diese Idee als einer der ersten Regionalverlage adaptiert. Zum alten Zeitungsdenken gehört ja noch viel mehr als das Online-und-Print-Denken. Zum Beispiel auch dieses privatradiomäßige Nirgendwo-anecken-wollen. Und auch das will Joachim Braun dem Kurier austreiben.
Seit Braun im März 2011 Chefredakteur wurde, haben sich in Bayreuth ein paar Dinge verändert. Was genau er da macht und was er erreichen will, hat Braun vor ein paar Monaten in seiner Rede beim Darmstädter Journalistenpreis erklärt. Er hat zehn Voraussetzungen formuliert, die erfüllt sein müssen, damit guter Lokaljournalismus möglich wird. An denen arbeitet er. Eine der wichtigsten ist, dass die Journalisten ihre Rolle verstehen.
In seiner Rede sagte Braun: „In den meisten Lokalzeitungen sind Journalisten längst Teil des Systems geworden, Bestandteil der örtlichen Eliten. In Bezug auf unsere wichtigste Tugend, die Glaubwürdigkeit, ist dies das pure Gift.“
Das ist auch das, was man von vielen Zeitungslesern hört. Lokaljournalisten sehen das oft ganz anders. Sie sehen sich natürlich nicht als Bestandteil des Systems, aber sie glauben, es geht nur so, wie sie es machen.
Die vielleicht populärste Schutzbehauptung in Lokalredaktionen lautet: „Nee, mit denen dürften wir’s uns nicht verscherzen. Dann erfahren wir gar nichts mehr.“ Dabei kann es sich wahlweise um den Bürgermeister, den Sportverein, die Landfrauen, irgendwelche Unternehmer, Politiker oder andere wichtige Menschen in der Stadt handeln.
Und es stimmt natürlich. Es kann sein, dass man von denen nichts mehr hört, wenn man sie kritisiert. Aber meistens wird es nur einen Moment lang dunkel. Dann öffnen sich neue Türen.
Das ist die Erfahrung, die Joachim Braun in Bayreuth gemacht hat. Viele interessante Tippgeber melden sich ja erst, wenn sie überrascht feststellen, dass die Zeitung mit denen da oben gar nicht unter einer Decke steckt.
Der erste Hate-Slam vor einem Jahr war so ein Aha-Erlebnis. Bei Youtube kann man sich den kompletten Mitschnitt ansehen. Irgendwann am Ende sagt der Moderator: „Es wäre verdammt schade, wenn wir das nicht fortsetzen könnten. Also schreiben Sie uns fleißig, und schonen sie uns nicht dabei.“ Das passierte dann auch. Der zweite Slam wurde noch etwas länger.
Einige Leserbrief-Autoren sind nach der ersten Veranstaltung vorsichtig geworden. Einer schrieb: „Angesichts der Gefahr, in einer nächsten Auflage des Hate-Slam der Lächerlichmachung preisgegeben zu werden, adressiere ich Sie als Herausgeber, und nicht die Redaktion des Nordbayerischen Kuriers.“ Es war trotzdem vergebens. (01:19:30)
Die Leserbriefe ähneln teilweise sehr dem, was man sonst in den Troll-Biotopen unter den größeren Nachrichten-Seiten findet. Verschwörungsvermutungen, nebulöse Drohungen und Beschimpfungen, wie dämlich die Redakteure doch seien. Die Briefe zeigen sehr schön, dass es Trolle auch schon gab, als sie noch kein eigenes Medium hatten. Aber früher warf man solche Post eben einfach weg.
Natürlich besteht die Gefahr, dass man von der einen Form der Arroganz in die andere verfällt und irgendwann jede Kritik als Trollpost versteht. Doch beim Kurier wissen sie ganz gut, dass trotz der neuen Marschrichtung auch manchmal tatsächlich noch Unsinn in der Zeitung steht. Manches lesen sie beim Hate-Slam vor.
Einige können das gar nicht glauben, denn auch nach vier Jahren Braun sehen viele Bayreuther im Kurier noch immer das bräsige Provinzblatt von gestern, das vor allem mit der eigenen Orthographie zu kämpfen hat.
Als der Online-Redakteur nach dem Hate-Slam die ersten Fotos auf der Facebook-Seite veröffentlichte, schrieb der Nutzer Sebastian Bruns: „(…) Jetzt war ich selber leider wieder nicht dabei und weiß demnach nicht, ob man sich vielleicht auch selber auf die Schippe genommen hat, aber der Headline zufolge eher nicht. Das lässt tief blicken.“
Joachim Braun antwortete: „Text lesen, Herr Bruns, oder Video schauen, dann wissen Sie, dass wir uns durchaus selbst auf die Schippe nehmen können.“
Sebastian Bruns tat das und war danach offenbar ganz ähnlicher Meinung. Unter dem Kommentar drückte er auf „Gefällt mir“.
Als sie in der Redaktion darüber diskutierten, welche Fotos vom Hate-Slam sie für die Zeitung verwenden, entschieden sie sich für die unvorteilhaftesten und schrieben das auch dazu. Die Leser beschweren sich ja auch ständig, dass man sie mit dem unfreiwilligsten Grimassen im Gesicht in der Zeitung abbildet.
Selbstironie. Ein bisschen davon würde wahrscheinlich vielen Lokalzeitungen guttun, denn es ist ja nicht so, dass junge Menschen sich auf einmal nicht mehr dafür interessieren, was um sie herum passiert. Sie stellen sich nur unter Lokaljournalismus etwas vor, das muffig ist und nach Verwesung riecht.
Offenbar haben auch andere regionale Zeitungen erkannt, dass so ein Hate-Slam da vielleicht ganz hilfreich sein kann.
Als der Applaus am Mittwochabend abgeklungen war, standen Kollegen von Verlagen aus anderen Städten vor der Garderobe. Dass die Veranstaltung ganz gut funktioniert, hat sich herumgesprochen. Und wenn etwas gut funktioniert, ist das gerade genau das Richtige für Zeitungen auf der Suche nach einem Plan für die Zukunft.
Das Problem ist nur: Wenn sich sonst nichts verändert, wird auch der Hate-Slam nicht funktionieren. Und eine Redaktion, die kein bisschen subversiv ist, wird selbst bei so einer Veranstaltung die Leute in den Schlaf lesen.
Wolfgang Blau, der Digital-Chef des Guardian, hat Ende Januar gesagt: „Für viele Verleger gibt es in der digitalen Welt einfach nichts zu gewinnen, und wir sollten ihnen nicht so rasch Verschlafenheit vorwerfen. Ihre Strategie, das alte Printgeschäft so lange zu beschützen wie möglich und ihre digitalen Aktivitäten nur als markenpflegende Begleitmusik für Print zu betreiben, ist plausibel und legitim.“
Der Nordbayerische Kurier könnte genau so eine Zeitung sein. Die Ausgangslage ist nicht besonders günstig. Seit Ende der Neunziger hat das Blatt jeden fünften Leser verloren. Pro Tag gehen gerade noch 35.000 Ausgaben raus.
In anderen Verlagen sieht es ähnlich aus, aber dort versucht man, das alles mit Sparen wieder hinzubekommen. Joachim Braun glaubt, dass dabei einer vergessen wird: der Leser.
Dass sie da in Bayreuth etwas anders denken, zeigt sich schon in kleinen Dingen. Man versteht ja die Zeitungsverlage, die von ihren Lesern weiterhin Geld haben wollen. Das ist immerhin der Hauptzweck eines Unternehmens. Geld verdienen. Aber aus anderen Branchen weiß man, dass man sich dazu am besten an den Bedürfnissen der Kunden orientiert, nicht nur an den eigenen.
Doch genau das machen viele Verlage. Weil es sich für sie zum Beispiel nicht lohnt, Artikel auch einzeln zu verkaufen, gibt es so was nicht, obwohl es technisch kein Problem wäre.
Dann entscheidet man sich notgedrungen für einen Tagespass und ärgert sich, weil man seine komplette Adresse angeben muss, Familienstand, Kontodaten, und dann darf man einen Tag lang alle Artikel lesen, obwohl man ja nur einen wollte. Wenn man noch mehr Pech hat, muss man Abonnent werden. Auch, wenn man sich nur für ein Foto interessiert.
Der Nordbayerische Kurier verkauft seine Texte für 39 Cent pro Stück. Das Angebot nutzen nicht viele. Ein paar hundert im Monat. Tendenz steigend. Aber finanziell wird sich der Einzelverkauf auf absehbare Zeit nicht lohnen.
Warum sie das trotzdem machen?
„Mich würde es nerven, wenn mich ein Artikel interessiert, und ich soll einen ganzen Tagespass bezahlen. Da denke ich mir: Dann verschenkste Geld. Und ich schätze, so denken auch viele Leser“, sagt Joachim Braun.
Der Verkauf von einzelnen Artikeln wird den Verlag nicht retten, aber vielleicht das Denken aus einer anderen Richtung. Und dazu gehört eben auch die Online-to-Print-Strategie.
Ich wollte mir das alles mal ansehen und bin am Donnerstagmorgen mit dem Taxi zum Druckhaus gefahren. Die Redaktion ist vor ein paar Jahren aus dem Zentrum ins Industriegebiet am Stadtrand gezogen. Und ein bisschen so hat sich auch die Perspektive der Zeitung verändert.
Die neue Ordnung im Großraumbüro ist nur daran zu erkennen, dass seit Februar nicht mehr die Blattmacher in der Mitte sitzen, sondern die Onliner. Und wenn sich das Denken ändern soll, geht das nur schwer mit den alten Begriffen. Deshalb heißt das wichtigste Thema des Tages jetzt nicht mehr Aufmacher, sondern – irgendwie ja auch viel logischer – Tagesthema.
Für jedes Thema gibt es drei mögliche Kategorien: aktuell, drangeblieben und zeitlos. Zu jeder Kategorie gehört eine Art digitaler Werkzeugkasten. Bei aktuellen Themen kann das Werkzeug ein Live-Ticker sein, ein Interview oder ein Handy-Video. Bei zeitlosen Dingen zum Beispiel auch ein etwas aufwändigerer Film.
Einzeln gab es all das auch schon, als die Losung noch „Online First“ hieß, aber da kreiste das Denken noch um den Zeitungsartikel, und es endete mit der Drucklegung am Abend. Im Vergleich zu vorher war das nur eine kleine Variation. Und das hatte eine großen Nachteil.
„‚Online First‘ kann man nebenbei mitmachen, ohne dass man wirklich online denkt“, sagt Joachim Braun.
Jetzt kann es sein, dass der Zeitungsartikel in den Planungen überhaupt nicht mehr vorkommt. Und für viele Regionalzeitungen ist das ein großer Kulturbruch. Vor allem, weil ja das Medium degradiert wird, das auch weiterhin das Geld verdient.
Man kann das natürlich auch anders sehen. „Die gedruckte Zeitung wird dadurch ja auch besser, weil viel mehr Aspekte beleuchtet werden“, sagt Joachim Braun. Doch die Vielfalt ist eher ein Nebeneffekt, denn hinter der Umorganisation steht ja vor allem der Wunsch, irgendwann vielleicht nicht mehr ganz so abhängig von der Zeitung zu sein.
Auch wenn man nicht weiß, woher das Geld dann kommen wird, ist es wahrscheinlich am besten, dann möglichst flexibel zu sein. Und das ist der Plan.
„Wir wollen es schaffen, dass jeder Reporter sich nur noch als Journalist sieht und es ihm eigentlich egal ist, für welchen Kanal er arbeitet“, sagt Braun.
Klingt eigentlich nach gar nicht so viel. Ist aber vermutlich doch eine ganze Menge.
4 Kommentare
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Gar nicht habe ich gar nicht geschrieben 🙂
Oh, Tschuldigung. Das ist mir da reingerutscht. Ich hab’s gelöscht.